Die Verlierer sind die Armen

Report von Brigitte Scholtes im Deutschlandfunk zur Inflation in Deutschland vom 24.08.2021 (aufgerufen am 26.08.921, 10:20)

„Deutschland und die Inflation Die Verlierer sind die Armen

In Deutschland ist die Inflationsrate seit langer Zeit wieder sprunghaft gestiegen. Der Grund: Sondereffekte der Pandemie. Auf Teuerungen reagieren die Deutschen allerdings höchst sensibel. Doch die Europäische Zentralbank bleibt ihrer lockeren Linie treu. Wie lange kann das noch gut gehen? ….“

Von Brigitte Scholtes Menschen mit geringem Einkommen werden stärker von steigenden Preisen getroffen als Gutverdiener. Denn sie geben den größten Teil für Lebensmittel, Wohnen und Energie aus.

Mehr als ein Jahrzehnt waren die Inflationsraten im Euroraum sehr niedrig. Nun steigen sie wieder – in Deutschland lag die Rate im Juli sogar bei 3,8 Prozent. Ein sprunghafter Anstieg: im gleichen Vorjahresmonat lag sie noch bei minus 0,1 Prozent. Auf Inflation aber reagieren die Deutschen sehr sensibel, es ist ein kollektives Trauma.

Ein Auslöser dafür dürfte die Hyperinflation von 1923 gewesen sein: „Die Inflation galoppiert. Im September 1923 liegt der Dollarkurs bei 50 Millionen Mark. Im November auf dem Höhepunkt bei 420 Milliarden. Wer überhaupt noch Arbeit hat, bekommt täglich meist mittags seinen Lohn und eilt sofort zum Einkaufen. Der Tageslohn reicht heute für ein paar Würstchen, morgen nur noch für ein einziges. Das Brot kostet 260 Milliarden, und für ein Pfund Fleisch muss ein Arbeiter seinen gesamten Tageslohn hinlegen: 3,2 Millionen Mark. Die Preise klettern stündlich.“

So beschreibt das Deutsche Historische Museum in einem Video die Lage im vierten Jahr der Weimarer Republik. Die Konsequenz: Papiergeld wurde nur noch auf Wägen oder in Schubkarren befördert. Mit der Aufhebung der Währungsbindung an den Goldpreis zu Kriegsbeginn hatte die Mark seit 1914 zunächst langsam, dann immer schneller an Wert verloren.

Im Juli stieg die Inflationsrate in Deutschland auf 3,8 Prozent. Was treibt die Inflation an und welche Maßnahmen werden ergriffen, um Preise stabil zu halten? Ein Überblick.

1923 dann, nachdem französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt hatten, wollten sie sich die dortigen Kohlevorkommen als Pfand für die Reparationsleistungen des Ersten Weltkriegs sichern. Die Regierung rief zum passiven Widerstand auf, es kam zu Generalstreiks, die Industrie, Verwaltung und Verkehr zum Teil lahmlegten. Die Löhne der streikenden Arbeitnehmer wurden vom Staat übernommen, der dafür Geld drucken ließ. Damit wurde die Währung, die durch die Wirtschaftskrise ohnehin schon stark an Wert verloren hatte, weiter geschwächt.

Stresemanns Regelungsversuche 1923

Mitte November versuchte die Regierung unter Reichskanzler Gustav Stresemann die Lage in den Griff zu bekommen: Die Rentenmark wurde ausgegeben, die mit Sachwerten gesichert wurde und einer Goldmark entsprach. Fünf Jahre später war die Lage aber immer noch schwierig, im Mai 1928 beschrieb sie Stresemann, zu der Zeit Außenminister, so:

„Tausendfach sind die Schwierigkeiten, unter denen wir leben. Außenpolitisch, innenpolitisch und wirtschaftlich. Das ganze Zeitalter, dessen Bürger wir sind, ist im Großen gesehen noch immer ein Zeitalter der Revolution. Unsere Grenzen sind nicht mehr wie einst geschützt, uns fehlt die Währung, Heimat und Haus, Land und Volk zu sichern. Unsere wirtschaftliche Zukunft ist unsicher, da wir bis zur Stunde die Grenzen unserer Verpflichtung nicht kennen, wohl aber genau wissen, wie schwer es für uns ist, unter erschwerten Bedingungen die Ausfuhr zu erhalten, aus der allein die Kriegsleistungen bezahlt werden können.“

Inflation und ihre Stigmatisierung

Große Teile der Mittelschicht aber waren durch die Inflation enteignet worden. Und diese Erfahrung vergaßen die Menschen in Deutschland nicht mehr.

„Auch in der Folgezeit gab es weitere versteckte Geldentwertungen, die mit Preiskontrollen, Warenbewirtschaftung und Knappheit verbunden waren, zum Beispiel im Dritten Reich und in der DDR“, erklärt Gunther Schnabl. Er leitet den Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig.

„Das zeigt, dass in der ein oder anderen Form Inflation mit wirtschaftlicher und politischer Instabilität verbunden ist, die die Menschen wirklich auch betrifft.“

Dass die Deutschen ein Problem mit der Inflation haben, glaubt auch Marcel Fratzscher. Inflation und Schulden als schlecht anzusehen, das sei aber eher eine moralische Frage, sagt der Präsident des DIW, des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.

„Es gab auch Zeiten der Deflation, gerade in der globalen Wirtschaftskrise 1929 bis -33, was ja auch mit entscheidend war, um die Nazis an die Macht zu bringen. Wir haben hier in Deutschland eine sehr stabilitätsorientierte Ordnungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgt. Und die Politik und auch die Eliten in unserem Land haben immer wieder uns eingebläut, Inflation ist was ganz Schlimmes. Und ich glaube, das ist in den Köpfen der Menschen angekommen.“

ING-Chefvolkswirt: Sparer können sich kaum vor Inflation schützen
Für die kommenden Jahre müsse man sich auf höhere Inflationsraten einstellen, sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Bank. Eine Hyperinflation drohe aber nicht.

Tatsächlich war Inflation bis auf die Zeit der Ölkrise in den frühen 70er-Jahren oder des Booms nach der Wiedervereinigung in Deutschland kaum noch ein Thema. Das aber lag auch an der Deutschen Bundesbank, sagt Gunther Schnabl:

„Allerdings gab es im Vergleich zur EZB heute zwei wichtige Unterschiede. Erstens ging der Anstieg der Inflation in beiden Fällen auf externe Faktoren zurück, die waren nicht von der Bundesbank verschuldet. Zweitens war die Deutsche Bundesbank immer gewillt, steigender Inflation entschlossen entgegenzuwirken. Und das hat damals auch ein großes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Deutsche Bundesbank begründet.“

Der Inflation entschlossen entgegentreten – das musste auch die amerikanische Notenbank Fed in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Schon seit den 60er-Jahren waren die Preise in den USA geklettert, 1979 hatte die Preissteigerungsrate 13 Prozent erreicht – und das bei einer stagnierenden Wirtschaft.

Eindämmung unter Jimmy Carter

In diesem Moment berief der damalige Präsident Jimmy Carter Paul Volcker an die Spitze der Fed. Und der schaffte es in den folgenden Jahren, die Inflation einzudämmen. Dazu müsse man die Geldpolitik so führen, dass die Inflationsraten nachhaltig sänken, sagte Volcker in einem Interview zu Beginn der 80er-Jahre. An einem Punkt werde dieser Damm brechen und die Psychologie sich ändern:

„The way you are going to get these interest rates down is by persisting in policies that will indeed continue to bring the inflation rate down. At some point this dam is going to break, the psychology is going to change.“

Dazu aber erhöhte die Fed die Leitzinsen bis auf 20 Prozent. Der Preis: eine schwere Wirtschaftskrise und eine Arbeitslosenquote von zehn Prozent. Aber Volcker blieb standhaft, 1983 war die Teuerungsrate auf drei Prozent gesunken.

Solch rabiate Methoden sind heute nicht mehr vorstellbar. Deshalb versuchen die Notenbanken inzwischen, von vornherein die Preise stabil zu halten. Das ist auch das oberste Mandat der Europäischen Zentralbank, die seit gut 20 Jahren für die Geldpolitik zuständig ist. Warum stabile Preise so wichtig sind, das erklärte Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank, bei einer Anhörung zivilgesellschaftlicher Organisationen zur geldpolitischen Strategie der Notenbank im November vergangenen Jahres:

„Dieses Mandat überstrahlt alles andere. Denn die Väter und Mütter der europäischen Verträge wussten, dass Preisstabilität langfristig der beste Beitrag ist, den Notenbanken für unseren Wohlstand leisten können.“

Sorge vor Deflation zwischenzeitlich größer als vor Inflation

Tatsächlich hat es die EZB in den vergangenen Jahren geschafft, die Preissteigerung durch eine sehr expansive Geldpolitik niedrig zu halten – auch in Folge der Finanz- und Schuldenkrise vor gut zehn Jahren. Zwischenzeitlich war die Preissteigerung so niedrig, dass die Sorge vor einer Deflation, also fallenden Preisen, überwog.

Um die zu bekämpfen, senkte die Notenbank die Zinsen in den negativen Bereich und pumpt seither Billionen von Euros in die Finanzmärkte, vor allem über die Käufe von Staats- und Unternehmensanleihen. Damit sollen den Firmen Investitionen erleichtert, die Konjunktur also angekurbelt werden. Die Hoffnung: Auch die Nachfrage und schließlich die Preise sollen dadurch steigen.

Eine Inflationsrate von zwei Prozent auf mittlere Sicht, also etwa über fünf Jahre, hält die EZB dabei für angemessen. Doch wurde die lange erst nicht erreicht, so ist das inzwischen anders, sagt Volker Wieland, Professor für Monetäre Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung:

„Seit Beginn dieses Jahres allerdings sind wir mit steigenden Inflationsraten konfrontiert, gerade in Deutschland jetzt auch Inflationsraten deutlich über zwei Prozent. Und in den vergangenen Monaten sind die Werte auch immer noch mal ein Stück höher ausgefallen als erwartet. Und die Frage, die jetzt sehr intensiv diskutiert wird, ist: Ist das also eine temporäre Entwicklung für uns in diesem Jahr oder ist das eine anhaltende Entwicklung?“

In Deutschland stieg die Teuerungsrate im Juli auf 3,8 Prozent. Bis zum Jahresende könnten es sogar fünf Prozent werden, erwartet die Bundesbank.

Die Grafik zeigt den Verlauf der Inflationsrate in Deutschland von Juli 2020 bis Juli 2021.  (Statistisches Bundesamt )Inflationsrate in Deutschland von Juli 2020 bis Juli 2021 (Statistisches Bundesamt )

Auch im Euroraum sind die Preise zuletzt um 2,2 Prozent gestiegen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde aber bleibt noch gelassen:

„Wir werden durch die aktuelle Inflation hindurchsehen. Wir haben gute Gründe, sehr vorsichtig zu analysieren und wachsam zu sein gegenüber der zugrundeliegenden Inflation. Wir müssen also genau auseinanderhalten: Was ist schwankungsanfällig, welche Faktoren sind vom Ölpreis abhängig oder von Nahrungsmitteln? Nur so können wir sicher sein, dass unsere Einschätzung richtig ist. Aber im Moment glauben wir, dass dieser Trend vorübergehend ist. Er lässt sich daneben zurückführen auf einige Lieferengpässe oder die sehr spezifischen Faktoren wie etwa die Mehrwertsteuererhöhung in Deutschland.“

Geldpolitik der Notenbanken immer mittelfristig ausgerichtet

Denn die Geldpolitik der Notenbanken, also auch der EZB, ist immer mittelfristig ausgerichtet. Deshalb nehmen die Währungshüter solche kurzfristigen Effekte zunächst hin, erklärt Oliver Holtemöller, Vizepräsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle:


„Wenn sie versucht, auf solche Phänomene zu reagieren, wird sie immer zu spät handeln. Wenn man jetzt vorausschaut, was ist die erwartete, wahrscheinlichste Preisentwicklung für das nächste Jahr, worauf die Geldpolitik reagieren könnte, dann wird das wieder eine durchschnittliche Inflationsrate sein, die mit dem Inflationsziel kompatibel ist. Ich würde jetzt nicht sagen, dass die Zentralbanken zu zögerlich sind. Wir sind an einem kritischen Punkt, das ist weiter wichtig, das zu beobachten.“

Kritischer Punkt auch deshalb, weil die EZB vor wenigen Wochen eine neue Strategie beschlossen hat. Danach sieht sie eine Steigerung der Verbraucherpreise von genau zwei Prozent zwar als wünschenswert an. Doch die Inflation könne eben auch einmal darüber oder darunter liegen. Kritiker fürchten, dass sie damit noch später als bisher schon ihre Geldpolitik straffen dürfte. Ob die derzeitigen Inflationseffekte aber tatsächlich wie nach EZB-Lesart nur vorübergehender Natur sind oder nicht, hänge vor allem von den sogenannten Zweitrundeneffekten ab, erklärt Ökonom Volker Wieland von der Universität Frankfurt:

„Die Inflation könnte sich verfestigen in bestimmten Bereichen, gerade dort, wo es vielleicht Personalengpässe gibt und wo das dann zu höheren Löhnen führt. Dort, wo die Lieferengpässe anhalten und deswegen generell zu Preissteigerungen führen in der Wirtschaft, da kann sich diese Inflation doch durchaus verfestigen. Entscheidend ist natürlich die Notenbankpolitik. Denn letztendlich geht es bei der Inflation nicht um einzelne Preisentwicklungen, also um die Brötchen beim Bäcker oder um die Gesundheitskosten oder um die Versicherung, sondern es geht um das allgemeine Preisniveau, um die Kaufkraft des Euro.“

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, rechnet nicht damit, dass die hohe Inflation lange anhält. Im Dlf sagte er, die Preissteigerungen seien vorübergehende Effekte.

Wie stark die Preise steigen, das empfänden viele Menschen jedoch ganz unterschiedlich.

„Wenn Sie eine einkommensschwache Familie in einer Stadt wie Berlin haben, die umziehen müssen und dann auf einmal ihre Mietkosten, ihre Wohnkosten um 20, 30 Prozent ansteigen sehen, dann ist das sehr wohl eine massive Inflation für diese Menschen“, sagt DIW-Präsident Marcel Fratzscher.

„Die müssen den Gürtel enger schnallen, Die müssen also ihren Lebensstandard in vielerlei Hinsicht begrenzen oder beschränken. Und das ist die große Problematik.“

Die Inflationsrate steigt nicht nur in Deutschland

Ohnehin werden die Menschen, die wenig Einkommen beziehen, stärker von steigenden Preisen getroffen als Gutverdiener. Denn sie geben den größten Teil ihrer Einkommen aus für Lebensmittel, Wohnen und Energie.

Mit der rasant gestiegenen Inflationsrate ist Deutschland allerdings nicht allein. Auch in den USA ist sie geklettert – dort sogar auf 5,4 Prozent. Ein generelles Dilemma, sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Bank.

„Das heißt für den Verbraucher: Die Inflation steigt, alles wird teurer. Aber gleichzeitig ist auf dem Sparkonto Nullzins bzw. Negativzins angesagt“.

Immobilienerwerb wegen hoher Preise fast ausgeschlossen

Denn wenn kaum Geld zum Sparen übrigbleibt, werden das die Verbraucher kaum in risikoreichere Anlagen wie Aktien stecken – auch wenn deren Kurse in den letzten Jahren deutlich zugelegt haben. Und ein Immobilienerwerb ist wegen der stark steigenden Preise fast ausgeschlossen. Gunter Schnabl von der Universität Leipzig erklärt:  


„Wenn gleichzeitig durch Inflation die Vermögenspreise steigen oder durch diese expansiven Geldpolitiken, dann profitieren natürlich insbesondere auch reiche Menschen, die den Anstieg der Konsumentenpreise dadurch kompensieren können, dass ihre Vermögensgüter immer mehr wert werden. Das gilt natürlich für Leute mit geringen Einkommen nicht.“

Wenn das Essen zu teuer wird
Zwischen Mai 2020 und April 2021 sind die Lebensmittelpreise im Schnitt um 25 Prozent gestiegen – so stark wie seit zehn Jahren nicht. Grund sind logistische Probleme, Mangel an Arbeitskräften und gesunkene Einkommen. 

Doch wie lange können die Preise an den Aktien- und Immobilienmärkten steigen, bevor es zum Crash kommt? Die Aktienkurse seien zwar tatsächlich durch die Decke gegangen, meint DIW-Präsident Fratzscher. Doch er sagt auch:

„Aktien ist nicht etwas, was der Staat oder was Zentralbanken kontrollieren können oder kontrollieren sollten. Die Aufgabe einer Zentralbank, wenn man wirklich über die Messung von Inflation spricht, dann sind das Dinge, die für uns als Konsumentinnen und Konsumenten relevant ist. Es halten in Deutschland kaum Menschen Aktien, meistens die Topverdiener.“

Und der Immobilienmarkt? Das Platzen der Blase dort hatte vor gut zehn Jahren schließlich die Finanz- und Schuldenkrise ausgelöst. Auch hier seien die Immobilienpreise in den letzten Jahren sehr stark gestiegen, sagt Ökonom Brzeski von der ING Bank:

„Das hat natürlich mit der extrem lockeren Geldpolitik der letzten Zeit zu tun, die ähnlich wie in Europa deutlich den Immobilienmarkt befeuert hat. Und das spricht halt dafür, dass die Fed sehr behutsam diesen Einstieg in den Ausstieg wählen wird. Wenn die amerikanische Notenbank zu schnell auf die Zinsbremse steigt, dann kollabiert der Immobilienmarkt. Und das will die amerikanische Notenbank definitiv nicht sehen.“

Viele Staaten im südlichen Euroraum hoch verschuldet

Müsste aber die EZB nicht neben den Verbraucherpreisen auch die Preise an den Aktien- und Immobilienmärkten stärker in ihre Inflationsbetrachtung mit einbeziehen? Das wäre hilfreich, meint Gunter Schnabl:

„Diese Finanzkrisen haben dazu geführt, dass die Zentralbanken die Finanzmärkte mit noch mehr billiger Liquidität geflutet haben und noch größere Spekulationsblasen ausgelöst haben. Und es ist für mich sehr, sehr überraschend, warum die Zentralbanken nicht gewillt waren, diese Risiken, die sie selbst verursacht haben, in ihre geldpolitischen Entscheidungen miteinzubeziehen.“

Ein Grund dafür könnte ein anderes Problem der EZB sein: Viele Staaten im Euroraum, vor allem in Südeuropa, sind hoch verschuldet. Eine Situation, die sich in der Coronakrise nicht gebessert hat, sagt Oliver Holtemöller vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle:

„Die Sorge ist natürlich, dass aufgrund der deutlich gestiegenen Schuldenlast der Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion die EZB zögern könnte, ihr geldpolitisches Instrumentarium auch einzusetzen, um die Inflationsgefahr abzuwehren. Denn das würde ja steigende Zinsen bedeuten, und im Endeffekt damit auch höhere Belastungen für die öffentlichen Haushalte im Euroraum.“

Egal welches Szenario eintritt: Dass die Verbraucher die Inflation je nach persönlicher Lage anders empfinden, das müsse man hinnehmen, sagt Gunter Schnabl, Professor der Universität Leipzig:

„Die wahre Inflation, die gibt es nicht.“

Das Verschwinden von Wurst- und Käsetheken in den Supermärkten

Die Frage lautet also: Wie misst man Inflation? Das ist Aufgabe der Statistikämter, die einen Warenkorb mit möglichst durchschnittlichen Produkten zusammenstellen. Diese offiziell gemessene Rate der Verbraucherpreise spiegele aber nicht die Preise an den Ladenkassen wider, erklärt der Ökonom. Denn die würden nochmals auf ihre Qualität hin angepasst:

„Computer werden leistungsfähiger, Kühlschränke werden energieeffizienter oder beim ein oder anderen Auto gibt es ein neues Zubehör ohne einen Aufpreis. Und wenn das der Fall ist, rechnen die statistischen Behörden die Preise in der Statistik runter.“

Umgekehrt aber würden schlechtere Dienstleistungen zum Beispiel nicht berücksichtigt. Schnabl nennt etwa das Verschwinden von Wurst- und Käsetheken in den Supermärkten. Hinzu komme, dass die Güter, die die Verbraucher häufiger kauften, ein größeres Gewicht im Warenkorb erhielten.

„Wenn Menschen immer mehr billige Güter konsumieren, zum Beispiel weil die Lohnentwicklung nicht besonders gut ist, wie das in den letzten Jahrzehnten auch meistens in Deutschland der Fall war, dann würde das Gewicht von billigen Gütern mit geringen Preissteigerungen im Preisindex steigen, und das Gewicht von teuren Gütern mit hohen Preissteigerungen im Index sinken. Und dann würde diese offizielle Inflationsrate nicht zwingend widerspiegeln, dass jetzt die Kaufkraft der Menschen gestiegen ist.“

Verlust des Vertrauens in die Notenbank?

Auch wenn die Menschen also häufiger bei Discountern einkaufen würden, hätten sie nicht mehr Geld zur Verfügung, das sie dann etwa für den Kauf einer Immobilie aufwenden könnten. Die Sorge von Gunter Schnabl: Dieser Verlust an Kaufkraft könnte nicht nur dazu führen, dass die Menschen ihr Vertrauen in die Statistik-Behörden und dann auch in die Notenbank verlören. Sondern auch zu ungerechten Verteilungseffekten, weil untere Einkommensgruppen eben am stärksten unter steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen leiden.

Aber auch junge Menschen würden benachteiligt, denn wenn die Aktien- und Immobilienpreise stark anziehen, könnten sie kein Vermögen mehr bilden. Für junge Familien ist es ja fast unmöglich geworden, in den Ballungsräumen ein Eigenheim zu kaufen. Und nicht nur das: Weil die Inflationsraten in Deutschland lange sehr stabil waren, hätten viele Sparer ihr Geld in Bargeld oder Bankeinlagen investiert, sagt Schnabl:

„Diese Ersparnisse der Mittelschicht, die werden jetzt von der EZB entwertet. (Und ich glaube, dass sowohl junge Menschen als auch die Mittelschicht sehr, sehr wichtige Pfeiler unserer Gesellschaft sind, die man mehr auch aus geldpolitischer Sicht respektieren müsste.) Aus meiner Sicht verfolgt die EZB mit der Geldpolitik, die sie derzeit umsetzt, insbesondere die Interessen der Finanzmärkte, aber auch die Interessen hoch verschuldeter Staaten. Und aus meiner Sicht sollte die Europäische Zentralbank ihr Augenmerk wieder mehr in Richtung auf die Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Währungsunion richten.“

Die Frage der Inflation: Sie ist auch gesellschaftspolitisch immer noch brisant. Davor sollten die Währungshüter nicht dauerhaft die Augen verschließen.“